Aus der Weihnachtspredigt von Bischof Ulrich Neymeyr: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“.(Joh 1,14) Dieser Satz aus dem Johannesprolog fasst kurz und prägnant zusammen, was wir an Weihnachten feiern: Das Wort – im griechischen Logos – ist die dritte göttliche Person neben Gottvater und dem Heiligen Geist, die in dieser unserer Welt leibhaftig Mensch geworden ist. Die menschliche leibhaftige Existenz wird mit dem Begriff „Fleisch“ gefasst, der nicht nur das Fleisch an unseren Knochen bezeichnet, sondern alles, was unsere leibliche Existenz ausmacht: Wir können nicht an zwei oder mehreren Orten gleichzeitig sein.

Vom Anfang bis zum Ende unserer Existenz sind wir begrenzt von Raum und Zeit. Zur leibhaftigen Existenz des Menschen gehören auch seine Vergänglichkeit sowie seine Verletzbarkeit. Die leibhaftige Existenz des Menschen ist aber nicht nur durch Einschränkungen definiert, sondern auch durch großartige Möglichkeiten. Unsere Sinne erschließen uns die Schöpfung mit all ihrer Pracht und Vielfalt. Unser Leib ist auf Fruchtbarkeit angelegt. Für die meisten Eltern ist die Geburt eines Kindes ein überwältigendes Erlebnis.

In diesem Corona-Jahr ist mir bei der Betrachtung des Johannesprologs eine Dimension der leibhaftigen Existenz des Menschen bewusst geworden, die mir vorher nicht so bewusst war: Der Leib ermöglicht und vertieft Begegnung und Gemeinschaft unter Menschen. Wie grundlegend wichtig das für uns Menschen ist, ist mir erst durch die Kontaktbeschränkungen und durch die verstärkte Nutzung digitaler Kommunikation wirklich bewusst geworden. Man kann am Telefon oder bei Videokonferenzen Besprechungen abhalten, Begegnung ereignet sich dabei aber nicht. Über eine Skype-Verbindung kann man sich vieles erzählen, sie ersetzt aber nicht die physische Begegnung.

Wir Menschen wollen uns unmittelbar sehen, hören und riechen. Die Parfümindustrie lebt davon. Nur wenn wir den Menschen wirklich sehen, können wir spüren, wie es ihm geht. Ein bewusster Handschlag, eine ehrliche Umarmung ist durch nichts zu ersetzen. Unser Leib ist das Medium der Begegnung und der Kommunikation. Das ist uns wohl allen in diesem Jahr der Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote sehr deutlich geworden. An Weihnachten feiern wir, dass Gott in Jesus Christus auf diese Weise unsere menschliche Existenz erlebt hat.

Die Evangelien berichten häufig davon, dass Jesus die Menschen, die er geheilt hat, auch berührt hat. Er war sehr sensibel dafür, wenn er selbst berührt worden ist: Es wird berichtet, dass sich inmitten einer Menschenmenge eine kranke Frau an Jesus herandrängte und sein Gewand berührte. Jesus hat das sofort gespürt und gefragt: „Wer hat mein Gewand berührt?“ Die Jünger hatten das nicht mitbekommen. Aber die Frau kam zu ihm und Jesus sagte ihr: „Meine Tochter, Dein Glaube hat Dich gerettet. Gehe in Frieden. Du sollst von Deinem Leiden geheilt sein.“ (Mk 5,25-34)

Auch sonst hat Jesus die Gemeinschaft mit Menschen genossen, am Gastmahl, bei einer Hochzeitsfeier oder auch beim letzten Abendmahl. Dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, dass das Wort Fleisch geworden ist, hat nicht nur nebenbei die Dimension der leibhaftigen Begegnung und Gemeinschaft mit Menschen. Vielmehr ist für den Johannesprolog diese Dimension zentral: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14) Wörtlich übersetzt müsste es heißen: „Er hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen“.

So wie Gott das Volk Israel bei dem Zug durch die Wüste im Offenbarungszelt begleitet hat und in diesem Zelt zeichenhaft physisch mitten unter den Menschen war, so ist er in Jesus Christus Mensch unter Menschen geworden, um die Begegnung und die Gemeinschaft mit den Menschen in allen ihren Dimensionen zu erleben und auch zu genießen. Es liegt ganz im Sinne dieses Aspektes der Menschwerdung Gottes, dass alle Sakramente, die wir heute in unserer Kirche feiern, mit Berührung verbunden sind, ja das Sakrament der Eucharistie sogar mit einem gemeinsamen Mahl. 

Bei der Betrachtung der sozialen Dimensionen der leibhaftigen Existenz des Menschen wird leider auch deutlich, dass die Schöpfung aus den Fugen geraten ist. Oder wie Paulus schreibt, „dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt“. (Röm 8,22) Dadurch, dass wir physischen Kontakt miteinander haben, können wir uns infizieren. Ich bin froh, wenn auf meiner Corona-App steht: „keine Risikobegegnung“. Begegnungen werden zum Risiko.

Politiker sagen: „Treffen Sie sich so wenig wie möglich mit anderen Menschen, damit Sie sich nicht gegenseitig anstecken.“ Auch Jesus kannte diese Schattenseite physischer Begegnung unter Menschen. Das Lukas-Evangelium erzählt davon, dass ihm zehn Aussätzige entgegen kamen. Wegen des Ansteckungsrisikos mussten sie in der Ferne stehenbleiben und laut rufen: „Jesus, Meister, hab erbarmen mit uns.“

Jesus konnte sie heilen und damit in die menschliche Gemeinschaft zurückführen. Das erhoffen und erflehen auch wir von ihm in diesen Weihnachtstagen. Es gelingt uns ohnehin nicht, uns am diesjährigen Weihnachtsfest in eine angeblich heile Welt zu flüchten. Wir sehen die Sorgen der Kranken und ihrer Angehörigen, die Last der Menschen in Pflege und Medizin. Wir sehen aber auch die Kriegs- und Krisengebiete unserer Erde, die vielen Millionen Flüchtlinge und das Los der armen Menschen, das durch die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie noch schlimmer geworden ist.

Und dann hören wir auch die Verheißung des Johannesprologs: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht Kinder Gottes zu werden.“ (Joh 1,12) Dieser Satz ist im ersten Johannesbrief entschlüsselt: „Jetzt sind wir Kinder Gottes. Doch ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird. Denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ (1 Joh 3,2)

(Weihnachtspredigt vom Erfurter Bischof Urlich Neymeyr)

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