Von Gisela Reinhardt

„Es begab sich aber zu der Zeit….“ so beginnt die Weihnachtsgeschichte nach Lukas. Meine Weihnachtsgeschichte, an die meine Geschwister und ich uns noch eindrücklich erinnern, ist mehr als 50 Jahre her. In unserer Familie lebten sechs Kinder, Vater, Mutter, Oma und eine Tante. Die Tante war weit über 80 Jahre alt und immer kränklich. Sie hatte eingeführt, dass jeden Morgen die drei kleinen Brüder vor ihrem Bett das „Vater unser“ aufsagen mussten. Dann öffnete sie die Schublade ihrer Kommode und jeder bekam ein Stück Schokolade. Zwei Tage vor Heiligabend starb sie. Auch am nächsten Morgen standen die Kleinen vor dem Bett und beteten artig. Da die Tante keine Anstalten machte, öffneten sie selbst die Schublade und nahmen die Belohnung heraus.

Damals war es Tradition, dass Bekannte und Freunde der Familie kamen, um zu kondolieren und die Verstorbene anzuschauen. Immer, wenn jemand kam, rannten wir Mädchen diensteifrig die Treppe hoch, öffneten die Tür und präsentierten die Tante dem Besucher, nicht, ohne sie dabei mit Weihwasser zu besprengen. Das schauten sich die Eltern nicht lange an und beschlossen, so können wir nicht Weihnachten feiern.

Es gab aber keine Leichenhalle und wo sollte man denn hin, mit der toten Tante. Kurzerhand fuhr Vater das Auto aus der Garage, nahm weiße Farbe und pinselte die Garage von innen weiß. Mutter streute den Boden mit Tannengrün aus, ein Sarg wurde bestellt und so verbrachte die Tante Weihnachten in der festlich geschmückten Garage.

Endlich kam der Heilige Abend. Wir Kinder waren ganz aufgeregt und warteten darauf, dass das Glöckchen läutete. Wenn das Glöckchen läutete, wurde es ganz still auf dem Flur. Es war dunkel, nur das Licht des Tannenbaums schimmerte durch das Milchglas aus der Weihnachtsstube. Jeder aus der Familie hatte eine lange dünne Kerze in der Hand. Abwechselnd las einer der größeren Kinder aus der Weihnachtsgeschichte. Dann wurde aus vollem Herzen gesungen, ein Lied nach dem anderen, bevor sich die Tür öffnete und wir eintreten durften. Vor der Krippe sangen wir das Lied „Ihr Kinderlein kommet“.

Nebenbei schielten die Augen schon mal leicht zu den Geschenken, denen offiziell noch keine Aufmerksamkeit geschenkt werden durfte, bis die Zeremonie beendet und sich alle frohen Weihnachten gewünscht hatten.

Auch an diesem Heiligabend standen wir aufgeregt und warteten auf das Zeichen von oben. Plötzlich klopfte es an die Tür. Ein Mann aus dem Dorf kam und ersuchte um Hilfe. Sein Kind hatte die neuen Schlittschuhe die das Christkind gebracht hatte, ausprobiert und war gestürzt. Es hatte ein Loch im Kopf und musste schnell ins Krankenhaus nach Worbis gefahren werden. Da Vater eines der wenigen Autos im Dorf besaß, kamen sie zu uns. Vater überlegte nicht, zog die Jacke über und fuhr mit dem blutenden Kind und dessen Vater ins Krankenhaus.

Nun standen 6 Kinder, die in froher Erwartung gewesen waren, traurig auf dem Flur, weil sie noch länger warten mussten. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis die Lichter vom Auto auf dem Hof aufleuchteten. Mutter hatte ihre ganzen Nerven aufbringen müssen, die Rasselbande in Schach zu halten. Oma war inzwischen in den Stall gegangen. Weihnachten bekamen die Tiere von ihr immer eine Sonderration Futter.

Endlich war der Vater da und es konnte losgehen. Die Kleinen, die zwischendurch müde geworden waren, sprangen freudig ihm entgegen. Jetzt ging es los. Genau wie in jedem Jahr wurde die Tradition des Heiligen Abends in der Familie zelebriert, als ob nichts gewesen wäre. Danach wurden die Geschenke ausgepackt. Mutter sorgte für das leibliche Wohl. Neben vielen Geschenken gab es auch ein Doktorspiel. Vater legte den Jüngsten auf den Tisch. Er war der Chefarzt und wir anderen durften ihm assistieren. Wir waren mit großem Interesse und Begeisterung dabei. Jeder hatte eine andere Idee, was mit ihm zu tun sei. Geduldig blieb unser „Benjamin“ auf dem Tisch liegen. Wir waren unendlich froh, dass Vater wieder Zuhause war, auf den wir so endlos lange warten mussten.

Lange konnten wir uns nicht erklären, wie es möglich war, dass wir alle auf dem Flur standen und oben das Glöckchen läutete. Dort war doch niemand. So wurde der Glaube an das Christkind für uns viele Jahre aufrechterhalten. Als wir älter und neugieriger wurden, entdeckten wir, dass Vater das Glöckchen auf dem Boden mit einer langen Schnur angebracht und kunstvoll durch einen Mantelärmel an der Flurgarderobe geleitet hat. Unauffällig konnte er unten an der Schnur ziehen und oben läutete das Glöckchen.

Mit zunehmendem Alter haben wir uns über unseren Vater lustig gemacht, dem es immer wichtig war, das Glöckchengeheimnis aufrecht zu erhalten. Bis heute führt jeder von uns in seiner eigenen Familie die Heiligabendtradition mitsamt Glöckchen fort und auch unsere Kinder zelebrieren den Brauch in ihren Familien weiter.
Die Tante musste bis zum 27.12. in der Garage bleiben, da über Weihnachten nicht beerdigt wurde.

Gisela Reinhardt