Anzeige in „Das Volk“ – Ausgabe Kreis Worbis vom 15. Juli 1972

Im April soll der Gebäudekomplex des einstigen Versorgungszentrums am Zentralen Platz mit der HO-Kaufhalle „Blaues Wunder“, dem „Haus der Dienste“, dem Friseur- und Kosmetiksalon der PGH „Moderne Linie“ sowie der Stadtbibliothek abgerissen werden. Für die Einen verschwindet damit ein jahrelanger Schandfleck, für die Anderen ein halbes Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte des Eichsfelds. Grund genug, einmal zurückzuschauen. Umfangreich hat Dr. Michael Kruppe dazu recherchiert. Hier sein erster Beitrag:

Wir schreiben das Jahr 1972: Während Jung und Alt unter der Sommerhitze stöhnen, wird am Mittwoch, dem 20. Juli, die neue Kaufhalle des HO-Kreisbetriebs Worbis eröffnet. Der Andrang ist riesig. Über 2000 verschiedene Artikel aus den Bereichen Nahrungs- und Genussmittel, Fleisch- und Wurstwaren, Haushaltschemie, Industriewaren, Büro- und Schulbedarf sowie Spielwaren etc. stehen nun für die Kunden bereit. Mit einer Verkaufsfläche von 430 Quadratmetern ist es die bis dahin größte und modernste Einkaufstätte des Kreises Worbis.

Aus der Tageszeitung „Das Volk“ – Kreisteil Worbis vom 22. Juli 1972

Obwohl sie keinen offiziellen Namen trägt, wird sie wegen ihres blauen Farbanstrichs von der Bevölkerung fortan „Blaues Wunder“ genannt. Leiter der Kaufhalle ist ein Herr Siegmund; 30 Mitarbeiter und 20 Lehrlinge sorgen für den reibungslosen Ablauf. Da die Mehrzahl der „werktätigen“ Bevölkerung von Leinefelde im Schichtsystem arbeiten muss, hat das „Blaue Wunder“ montags bis freitags von 8.00 Uhr bis 18 Uhr und samstags von 7.00 Uhr bis 11.00 Uhr geöffnet. Zur Bezahlung stehen sechs Kassen bereit.

Artikel in „Das Volk“ Kreisteil Worbis vom 20. Juli 1972

Dass die Eröffnung vom „Blauen Wunder“ mit reichlich Verspätung stattfindet, stört an
diesem Tage niemand. Noch beim Richtfest der Halle im Oktober 1971 hatten Hans-Werner Wagner, Direktor des Volkseigenen Einzelhandelsbetriebs (HO) des Kreises Worbis, und Heinz Wenderott, Betriebsleiter der ZBO „Fortschritt“ Worbis, den Mund etwas zu voll genommen. In Anwesenheit von Vertretern des Staatsapparates kündigten sie damals an, „alles daran zu setzen […], um den Eröffnungstermin im Juli nächsten Jahres mindestens vier bis fünf Wochen vorzuziehen.“ Das vollmundige Versprechen erwies sich schnell als unrealistisch und selbst der geplante Eröffnungstermin am 1. Juli 1972 konnte nicht eingehalten werden. Da sich der Obst- und Gemüsemarkt am 20. Juli noch im Bau befindet, muss die Verkaufsstelle im unfertigen Zustand der Öffentlichkeit übergeben werden. Auch der Platz vor der Kaufhalle ist eine riesige Baustelle und wird es noch lange bleiben.

1974 – Blick auf Kaufhalle und rechts Stadt L. – Privatarchiv M. Kruppe

Kehren wir nun in die Gegenwart zurück: Die HO-Kaufhalle „Blaues Wunder“ war das erste Teilstück des neuen Versorgungszentrums von Leinefelde, welches zwischen 1971 und 1974 erbaut wurde. Es ist auch unter der Bezeichnung „Versorgungskomplex Leinefelde“ bekannt. Das alte Versorgungszentrum, bestehend aus der 1965 eröffneten Ladenstraße „Centra“ und der Betriebsambulanz neben der Baumwollspinnerei, konnte den ständig steigenden Bedarf an Waren und Dienstleistungen schon nach wenigen Jahren nicht mehr decken. Bedingt durch den planmäßigen Ausbau der Industriebetriebe VEB Baumwollspinnerei und –zwirnerei Leinefelde sowie dem VEB Eichsfelder Zementwerke Deuna, dem damit verbundenen Zuzug von Arbeitskräften, aber auch durch die Schaffung von neuen Wohnungen stieg die Einwohnerzahl von Leinefelde exponentiell an. Das Waren- und Dienstleistungsangebot konnte mit der rasanten Bevölkerungsentwicklung jedoch nicht schritthalten. Zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen wurde daher ein neues Versorgungszentrum konzipiert, das aus fünf Hauptbereichen bestehen sollte:

  • Kaufhalle
  • Komplexannahmestelle
  • Friseur und Zentrale Bibliothek
  • Gaststätte
  • Mehrzwecksporthalle

Da die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln Priorität besaß, wurde das „Blaue Wunder“ zuerst gebaut. Vieles, was es dort zu kaufen gab, stammte aus Eichsfelder Produktion. Dazu zählten z.B. die Getränke vom VEB Neunspringe Worbis, die Milch- und Käserei-Erzeugnisse vom VEB Milchhof Leinefelde, die Obst- und Gemüsesorten vom VEB Großhandel OGS (Betrieb Leinefelde), die Bäckerei-Erzeugnisse vom Konsum-Backwarenbetrieb Heiligenstadt sowie der Bäckerei Helbing in Leinefelde, aber auch die Fleisch- und Wurstwaren aus den Eichsfelder Betrieben des VEB Fleischkombinats Erfurt.

Die erhoffte Verbesserung der Versorgungslage, welche durch den Bau der HO-Kaufhalle
„Blaues Wunder“ eingetreten war, dauerte nicht lange an, denn die Stadt Leinefelde und ihre Bevölkerung wuchsen ständig weiter. Im Sommer 1978 wurde daher mit dem Bau einer neuen Kaufhalle in der Händelstraße begonnen. Sie trug den Namen „31. Jahrestag“ und wurde am 1. Oktober 1980 eröffnet. Mit einer Verkaufsfläche von 750 Quadratmetern löste sie das „Blaue Wunder“ als größte Kaufhalle im Kreis Worbis ab.

Dr. Michael Kruppe

(Fortsetzung folgt)

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