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Wie war das damals – zu DDR-Zeit? Manche Erinnerungen verblassen, Zeitzeugen werden immer weniger. Da ist es gut, wenn jemand etwas aufschreibt und so die Öffentlichkeit an seinen Erlebnissen teilhaben lässt. Winfried Körner aus Dingelstädt hat es beispielsweise getan und schreibt einige Erlebniss zu DDR-Zeit.

Die sonntäglichen Ausflüge bewegten sich in unserer Jugendzeit in den Wald – und die Randgebiete des Wohnortes Dingelstädt. Dazu wurden die üblichen Wallfahrtstermine in der Umgebung (Werdigshäuser Kirche, Helmsdorf, Beberstedt, Klüschen Hagis) wahrgenommen, teilweise in der örtlichen Prozessionsordnung mit Fahnen und Meßdienern, oder auch per Fuß oder Fahrrad. Dabei wurden ev. auch Familienangehörige besucht und Arbeitskollegen getroffen. Entweder wurde vorsorglich Mitgebrachtes verspeist aus dem Picknickkorb oder es erfolgte meist traditionsgemäß eine Einladung zum Mittagessen.

Mit der Anschaffung eine PKW ( typischerweise Trabant ) vergrößerte sich die Entfernungen zu Wallfahrtsorten und Besichtigungsziele. Etzelsbach, Worbis, Bodenstein, Annaberg, zur Brinkwallfahrt u.a.. Aber auch Mühlhausen und die Bistumswallfahrt in Erfurt wurden nun leichter möglich.

Ausgenommen war das Grenzgebiet mit 5 km Bereich und 500m Abschnitt, denn erhöhtes Risiko zu Scherereien waren bekannt. Schon die Transportpolizei (Trapo) kontrollierte die Bahnstrecken in Richtung Grenze auf mögliche flüchtende Personen aus dem Innland (so erlebt regelmäßig ab Sangerhausen in Richtung Arenshausen).

Insbesondere die Nähe zum 448 Meter hohen Hülfensberg war interessant. Ershausen war dabei ein Ziel. Es wurde unter Verschwiegenheit berichtet, dassvom Misserode (noch außerhalb des Sperrgebietes) ein gut befahrener Feldweg östlich des Dorfes in Richtung der Verbindungsstraße Ershausen- Geismar gibt, auf dem man den Hülfensberg mit dem Hülfenskreuz sehen könne. Auch die Verbindungsstraße Großbartloff- Wilbich erlaubte einen Blick zum Berg.

Berichtet wurde, dass von der Gaststätte Kressenhof in Ershausen eine gute Sicht zum Berg und der dortige Wirt bereit sei, bei Hochzeiten u.ä. bei Hinterlegung einer Spende (für die Franziskaner), per Telefon der dortige Pater Erwin die Beleuchtung des Hülfenskreuzes einschaltet.

Über einen Bekannten aus Erfurt gab es gute Beziehungen zu Pfr. Palesch – Ortspfarrer in Pfaffschwende und umliegende Gemeinden – so dass ein Besuch der Dieteröder Klippen 1985 versucht wurde. Die Klippen waren nicht im 5 km Sperrgebiet, aber der Zugang von Kalteneber sowie Rüstungen führte durch kontrolliertes Gelände durch die Grenztruppen + Polizeihelfer,

Der Pfarrer holte uns in Rüstungen (vor der Kontrollstelle außerhalb des Sperrgebietes) ab und wir wanderten über Feldwegen zu den Dieteröder Klippen mit dem Ziel, von hier aus einen Blick zum Nationalheiligtum der Eichsfelder – dem Hülfensberg – sowie in die „Eichsfelder Schweiz“ zu bekommen.

Aber sofort war eine Kontroll-Streife der Grenztruppen zur Stelle, um die unangekündigten und unbekannten Personen zu kontrollieren. Dank des als Priester zu erkennenden Pfr. Palesch, gab es keine unangenehmen Folgen, wir befanden uns noch nicht im Grenzgebiet und waren anscheinend nicht als Republik-Flüchtige verdächtig.

1985 hatten wir freundschaftliche Beziehungen zu einer Familie aus Sickerode. Die Ehefrau war Dorfvorsitzende des DFD (Deutscher Frauenbund) und damit Mitglied im Gemeinderat. Dies letztere hatte als Anerkennung ihres Einsatzes für die Gemeinde zu dem damaligen Zeitpunkt die Erlaubnis, Fremde (ohne Antragstellung bei der VP) in das Gemeindegebiet begleiten zu dürfen, unter ihrer Aufsicht und Verantwortung.

Dies wurde von uns an einem Sonntag zum gemeinsamen Kaffeetrinken und dem Blick zum Schloßberg (Greifenstein) beim Spaziergang mit der Familie genutzt. Pfr. Sendler – Pfr. in Kella, Sickerode und Umgebung – staunte, dass wir Inländer zur Andacht in der Pfarrkirche mit Gesang und Gebet die dörfliche Gemeinschaft stärkten. In Begleitung des Mitgliedes des Gemeinderates wurden wir dann zum Übergang des (zw. unbesetzten) Kontrollposten des 5 km Grenzgebietes gebracht und in das relativ kontrollfreie DDR Hinterland entlassen.

Ein Mitlehrling während meiner Lehrausbildung wohnte in Berlingerode, nahe Duderstadt. Ein Besuch im Grenzgebiet war nur auf Einladung eines dortigen Einwohners möglich, einzureichen beim zuständigen örtlichen Volkspolizei-Angehörigen zwecks Weiterleitung an das VPKA- Kreisamt Worbis zur Genehmigung. Meinen Mitlehrling quälte ich jahrelang, einen solchen Besuch für mich und /oder meine Familie zu ermöglichen – jahrelang hat er sich nicht getraut, ein Antrag für uns zu stellen.

In Frühjahr 1985 – nachträglich zu seinem 35. Geburtstag – gab es wohl eine günstige Konstellation mit dem VP-Angehörigen und die Genehmigung für ein Grenzschein der Familie war in unseren Händen. Die Kontrollstelle hinter Ferna, Richtung Teistungen, machte keine Schwierigkeiten bei dem Vorzeigen von PA + Grenzschein.

Nach dem Kaffetrinken wanderten wir um die Ortschaft. Wir wurden belehrt, um keine Scherereien mit ev. Kontroll-Personal (zivile Polizeihelfer) zu bekommen:

  • keinen Fotoapparat zeigen
  • kein Fernglas nutzen
  • nirgendwo mit der Hand hinzeigen
  • immer im Gespräch bleiben mit den Ortskundigen

So konnte ich aus dieser Richtung Duderstadt mit seinen Türmen erstmals sehen. Natürlich wurden die Grenzscheine nach Verlassen des Grenzgebietes weisungsgemäß bei der VP abgegeben. Ein Abstecher zur Teistungenburg zu machen, wurde uns abgeraten, denn dies lag nicht auf der Fahrtroute.

Während einer Wanderung im Westerwald zum Ershäuser Fenster gab es auch eine gute Sicht zum Hülfensberg. Dabei erzählte ich meiner Familie, dass ich im Jahr meiner Erstkommunion 1959 mit meinen Eltern und Großeltern eine Wallfahrt noch mit dem eingesetzten Sonderzug nach GEISMAR auf den Hülfensberg – erstmalig + einmalig- gemacht habe.

Unser Sohn wurde in der 3. Klasse auf die Erstkommunion vorbereitet und erwiderte sofort, dass auch er als Erstkommunionkind solch eine Wallfahrt unternehmen möchte. Jedoch konnte ich nur antworten, dass dies nicht möglich sein wird und nicht genehmigt werden könne. Über diesen Gedanken brütete ich längere Zeit.

Mit meinem angepassten Verhalten hatte ich bei dem Staat noch keine größeren Probleme. Ein Ausreiseantrag war nie gestellt, ich war politisch zurückhaltend, besuchsfähige (damals 1.+2. Grades) BlutsVerwandte gab es bei mir nicht. Ich hatte also kein Grund gegen den Staat auf gebracht zu sein, da nie eine Ablehnung eines Antrages erfolgte: es war ja nie einer gestellt worden.

Also war für mich das Vorhaben gefasst, einen Antrag zur Wallfahrt zum Eichsfelder National-Heiligtum zu stellen. Am aussichtsreichsten schien mir, den Elternkreis mit einzubeziehen mit diesen einen Antrag zu stellen.

Von einem Arbeitskollegen W. S. wusste ich, dass dieser mit seiner Kallmeröder Blaskapelle desöfteren die Hülfensberg-Wallfahrt begleitete. Mit meinem Anliegen unter vier Augen bekannt gemacht, äußerte er zunächst:“ Darüber darf ich Dir gar nichts sagen, wenn das raus kommt….“.Nach Bedenkzeit mit der Begründung, mein Vater hat mit seiner Mutter gut zusammen gearbeitet, hat er dann doch den Mut gehabt, mir seine Vorgehensweise für die Antragstellung der Musiker zu erklären.

Dies sah folgendermaßen aus: Alle Angaben der Wallfahrer mit Angaben des Personalausweises und mit PA Nr., eigenhändiger Unterschrift, Beglaubigungsvermerk durch das Pfarramt zur Bestätigung der aktiven Mitgliedschaft in der Kirche, mit Begründung zur Wallfahrt und beabsichtigten Reiseweg. Dazu hatte ich die Nutzung mit dem Zug nach Geismar vorgesehen, dies wäre für Polizei und deren Helfer am einfachsten zu überwachen.

Von der befreundeten Familie aus Sickerode hatte ich erfahren, das die Michaelis-Wallfahrt immer am schwächsten besucht sei, genehmigte maximale Wallfahrer sei wohl die 1000-Personen Grenze. Also wurde im Familienkreis unter Maßgabe der Verschwiegenheit der Versuch gestartet. Die zwei mit beantragten angehenden Rentner erweiterten die Bandbreite von 5 bis 63 Jahren, da dass eine ev. Fluchtgefahr nach Westdeutschland weniger wahrscheinlich anzunehmen war von den Erlaubnis-Behörden.

Wegen Urlaub des Dingelstädter Pfarrers Seeland ersuchte ich die Bestätigung durch den Vikar Schuchardt. Hier war bei ihm die Frage, ob er dies machen dürfe, es gehe ja um nicht übliche Angelegenheiten, er rechne mit Scherereien mit dem Propst. Mit Verweis auf die Bestätigung als aktive Mitglieder der Kirche dürfte er doch keine Probleme bekommen. So bekam ich die Bestätigung der aktiven Mitgliedschaft. Ob wir die Genehmigung überhaupt bekommen, sei ja auch noch fraglich. Entweder ist das Gottes Wille, oder nicht: dann eben nicht.

Einige Tage vor dem Termin der Wallfahrt wagte ich eine telefonische Nachfrage nach dem Stand der Bearbeitung beim VPKA . Die Genehmigung sei schon einige Tage zur Abholung bereit gelegt, war die überraschende Antwort. So vereinbarte ich einen Termin zur Abholung und wider Erwarten wurde auch keine Streichung von Personen vorgenommen ( alle Personen waren älter als 25 Jahre und verheiratet / bzw. Kinder).

Die Wallfahrergruppe (28 Personen) traf sich an dem Wallfahrtssonntag gegen 6:45 am Bahnhof Dingelstädt zum Zug nach Geismar. Der Bahnhofsvorsteher, ein gebürtiger Geismarer, fiel auch aus allen Wolken bei der Bestellung der Fahrkarten. „Das gibt es doch nicht, nur mit gültigen Grenzschein.“ Diesen konnte ich dann auch vorweisen und erhielt die Karten.

Im Personenzug waren wir die einzigsten Fahrgäste, nun war die Belehrung notwendig: Also kein Fernglas, kein Fotoapparat, nirgendwo hin zeigen.,,,

Keiner kannte den Weg vom Bahnhof Geismar zum Ausgangspunkt des Kreuzweges, Aus einer alten Karte hatte ich versucht, mir den Weg einzuprägen. Karten aus dem Grenzgebiet bei einer Wanderung dabei zu haben, riskierte man ein Verdacht auf Republikflucht. An der ersten Station des Kreuzweges war ich mich mit den Bekannten aus Sickerode verabredet. Diese hatten sich verspätet.

Eine Prozession kam von Lengenfeld und der Pfarrer schlug vor: „Schließt euch an“. Den Kreuzweg mit den Lengenfeldern betend, gingen wir gemeinsam- aber nur bis zum Schlagbaum (Beginn des 500m Gebietes am Waldrand). Ein uniformierter Polizist stand am Schlagbaum zur Aufsicht. Der Pfarrer brauchte nur zu sagen: „Lengenfeld“ und alle Lengenfelder konnten gezählt passieren.

Nach dem Pfarrer sagte ich „ Dingelstädt“ und sofort wurde der Angehörige der VP aktiv: Mit Euch habe ich noch gar nicht gerechnet“ und „..alle Dingelstädter anhalten“. Die Angaben der Genehmigungsliste wurden mit den jeweiligen vorzuzeigenden PA-Ausweis und der Person verglichen. Eine Person fehlte lt. Liste: „wegen Krankheit“, wir durften nun der zwischenzeitlich weiter gezogenen, betenden Prozession nachlaufen.

Am Ende des Kreuzweges empfing uns der Hüter des Hülfensberges, Pater Erwin, erfreut über diese außergewöhnliche Wallfahrtsgruppe. Nach dem Wallfahrtsgottesdienst und der Eucharistischen Prozession über den Berg bekamen wir durch P. Erwin eine Kirchenführung und einen geschichtlichen Abriss des Wallfahrtsortes vermittelt. Er war sehr erstaunt, eine genehmigte (zivile) Wallfahrertruppe in dieser Größe zu begrüßen, es dürfte das erste Mal sein seit 1961 gewesen sein. ( Für alle Priester des bischöflichen Amtes Erfurt gab es einen jährlichen Wallfahrttag am 3. Pfingsttag).

Der Berg leerte sich dann zusehends, alle Wallfahrer verließen den Berg. Anscheinend wollte keiner sich Probleme machen. Der Pater wies uns Dingelstädter darauf hin, dass der Unteroffizier angeordnet habe, dass alle Wallfahrer den Berg bis 13:00 Uhr zu verlassen haben. Darauf waren wir nicht eingestellt, schließlich hatten wir für den ganzen Tag die Genehmigung, die Zugabfahrt ab Geismar war erst gegen 16:00 Uhr.

„ Macht keinen Ärger, Ihr wollt doch wieder kommen“ so der Rat des Paters.

Ein dickes Tau begrenzte die begehbare Fläche an der Südspitze des Berges, auch bewegten sich einige Male die Zweige eigenartig – vermutlich durch neugierige Grenzposten der NVA. Das Wetter an diesem Tag war trüb und neblig, mit dem Blick ins Westgebiet sowie zu den Grenzanlagen konnte nichts erspäht werden.

Unbehelligt konnten wir den Rückweg bergab gehen – keine Kontrolle mehr. In Geismar meldeten wir uns bei dem Ortspfarrer Riethmüller (Vikar in Dingelstädt 1978/79), und bekamen auch hier die verabredete Kirchenführung der großen Ortskirche St. Ursula und Wallfahrtkaffee, dazu unseren mitgebrachten Kuchen und Kekse.

Gestärkt durch die Wallfahrt kamen wir fröhlich in Dingelstädt an. Natürlich wurden die Besonderheiten der Bahnlinie bewundernd, insbesondere die Bahnführung der Viadukts über Lengefeld/Stein aus dem vorherigen Jahrhundert.

Am nächsten Tag erhielt ich einen Anruf eines früheren Arbeitskollegen aus Breitenworbis (Vorsitzender der dortigen Kolpingfamilie) mit der Frage, wie es mir gelungen war, die Genehmigung zu bekommen. Er wolle es auch so probieren.

Im nächsten Jahr, 1987, wurden die organisatorischen Rollen getauscht. Verantwortlicher und Einreichender der bewährten Antragsliste war ein Mitglied des Familienkreises, welche 1986 zum Wallfahrttermin zum NVA Reservedienst eingezogen war.

Damit sollte nicht der Eindruck einer organisierten, planmäßigen Vorgangsweise bei den Aufsichtsbehörden erzeugt werden. Also die bewährte Antragsliste mit Bestätigung durch das Pfarramt und Abgabe beim VP-Gruppenposten in Dingelstädt durch den neuen Verantwortlichen.

Nach einigen Tagen erhielt dieser auf seiner Arbeitsstelle einen Anruf, er möge sofort zum Gruppenposten kommen. Vom Polizei-Angehörigen der Meldestelle wurde die Frage gestellt, wieso er sich getraut hat, einen Antrag zur Wallfahrt zum Hülfensberg zu stellen? Bezugnehmend auf die genehmigte Wallfahrt in Vorjahr 1986, ließ der Polizist dies nicht gelten, sondern entgegenete: „Keiner hat und bekommt eine Genehmigung zum Hülfensberg“, und zerriss den Antrag vor den Augen des Antragstellers.

Unser Antrag 1986 war anscheinend eine zufällige Einzel-Entscheidung der Dienststellen. Oder gab es 1987 durch die übliche „Stille Post“ weitere Antragstellungen von Pilgergruppen mit dem Ziel Hülfensberg und/oder die Übersicht der kontrollierenden Organe war nicht mehr gewährleistet?

1988 gab es infolge der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR dann durch die Kirche organisierte (genehmigt) Bus-Wallfahrten zu den 4 Wallfahrtstagen. Als die Nachfrage nach dem Wallfahrtsort dennoch so hoch war, wurden zusätzliche Wallfahrtstage auf dem Hülfensberg mit den Behörden vom Propst aus verhandelt und Busreisen für die Pfarrämter genehmigt.

Mit der Grenzöffnung 1989 war das Monopol der Polizei/Grenztruppen für den Wallfahrtsort  seit Errichtung des „Antifaschistischen Schutzwalls“ 1961 gebrochen und das Wallfahrtsleben mit polizeilicher Genehmigung und der Spuk zu Ende.

Winfried Körner

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