In diesem Jahr gibt es – muss man es noch begründen? – wegen der Corona Pandemie keine Ansprache von Bischof Ulrich Neymeyr auf dem Elisabeth-Empfang, zu dem das Bistum Erfurt jährlich in zeitlicher Nähe zum Festtag seiner heiligen Patronin Elisabeth von Thüringen am 19. November Politiker aus dem Freistaat in die Landeshauptstadt Erfurt einlädt. Wie so viele andere Veranstaltungen musste auch der Elisabeth-Empfang abgesagt werden.
Stattdessen wendet sich der Bischof mit „Gedanken über Corona“ an die Männer und Frauen, die er gerne als Gäste begrüßt hätte, und an die interessierte Öffentlichkeit:
„Es ist gute Tradition, dass das Bistum Erfurt am Fest der Heiligen Elisabeth Vertreterinnen und Vertreter von Gesellschaft, Politik, Kultur und Medien zu einem Empfang einlädt. Die Infektionsschutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus verhindern auch diese schöne und wichtige Zusammenkunft. Gerade in den Zeiten der weltweiten Bedrohung durch das Corona-Virus fragen viele die Kirchen nach Orientierung und Trost. Auf dem Wege der medialen Vermittlung möchte ich dazu gerne einige Gedanken sagen.
Gegen die Angst, die viele Menschen ergriffen hat, setzt die Bibel die Einladung zum Vertrauen auf den Beistand Gottes und die Hoffnung, dass uns nichts und niemand aus der Hand Gottes reißen kann. In einem großen Vertrauensgebet des Alten Testamentes, dem Psalm 91, wird auch das Vertrauen auf Gott vor der Bedrohung durch Seuchen zum Ausdruck gebracht: „Du brauchst Dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.“ (Psalm 91,5-6) Der Glaube ist die Einladung zu einem solchen Vertrauen, auch wenn die Vernunft mahnt, dass Vertrauen ohne Vorsicht Leichtsinn ist. Der Glaube erinnert daran, dass Vorsicht ohne Vertrauen Angst ist.
Als religiöse Menschen werden wir in diesem Jahr häufig gefragt: Wie kann Gott eine solche Pandemie zulassen? Hat er keinen Einfluss? Das klassische religiöse Deutungsmuster für Unglücksfälle und Katastrophen ist, sie seien eine Strafe oder Geißel Gottes. Nun ist es aber offensichtlich so, dass nicht alle guten Menschen mit einem freundlichen Schicksal belohnt werden und alle Verbrecher einer Strafe zugeführt werden. Auch das Corona-Virus macht keinen Unterschied zwischen guten und bösen Menschen. Die Bibel ringt an vielen Stellen mit der Tatsache, dass es Frevlern gut geht und Sündern schlecht. Die Israeliten sahen nicht nur auf das Schicksal des Einzelnen, sondern sie deuteten auch das Schicksal des Volkes Israel als Belohnung oder Bestrafung durch Gott. Die Vertreibung aus dem gelobten Land Israel und die Verbannung nach Babylon verstanden die Propheten als Strafe für das Fehlverhalten der Menschen: „Eure Frevel haben die Ordnung gestört. Eure Sünden haben das Gute von euch ferngehalten. (…) Sollte ich sie nicht heimsuchen – Spruch des Herrn – und an einem solchen Volk keine Vergeltung üben?“ (Jeremia 5,25-29) Dieses Geschichtsverständnis kann so nur in einem homogenen, zusammenlebenden Volk mit gemeinsamem Glauben wachsen.
Jesus wurde von seinen Zeitgenossen dazu befragt, ob das Schicksal der Menschen eine Antwort Gottes auf ihr Verhalten ist. Es gab dazu einen konkreten Anlass. Beim Einsturz eines Turmes am Schiloach in Jerusalem waren 18 Menschen erschlagen worden. Für die Zeitgenossen Jesu stellte sich die Frage, ob die Opfer dieses Unglücks „größere Schuld auf sich geladen hatten als alle anderen Einwohner von Jerusalem.“ (Lukas 13,4) Jesus beantwortete diese Frage sehr drastisch: „Nein, ich sage Euch, vielmehr werdet Ihr alle ebenso umkommen, wenn Ihr nicht umkehrt.“ (Lukas 13,5) Dies ist eine interessante Interpretation auch für uns Heutige. Jesus verstand das Unglück, das in Jerusalem geschehen ist, als eine Mahnung zur Umkehr. In religiöser Hinsicht bedeutete dies für ihn die Mahnung, sich der Zerbrechlichkeit und Endlichkeit des menschlichen Lebens bewusst zu bleiben, wachsam zu bleiben für die Wirklichkeit Gottes und darauf zu vertrauen, dass das Leben auch über den Tod hinaus in der Wirklichkeit Gottes geborgen ist.
Dass Jesus ein Unglück als Mahnung zur Umkehr begriffen hat, lässt mich fragen, ob die weltweite Corona-Pandemie vielleicht auch zur Umkehr mahnt. Es fällt mir einiges ein, was durch das Corona-Virus offengelegt wurde und Richtungsweisungen für unsere Gesellschaft gibt:
Bisher sind die einzigen Mittel gegen die Verbreitung des Virus die Vermeidung der nahen Kontakte zu anderen Menschen durch Kontaktbeschränkungen, Abstandhalten oder Mund-Nasen-Schutz. Das Virus fordert dadurch ein hohes Maß an Solidarität aller mit allen, um nicht nur die eigene Gesundheit, sondern zuallererst die Gesundheit der anderen zu schützen. Es ist erfreulich, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft zu dieser Solidarität bereit sind. Es ist aber auch nicht verwunderlich, dass diejenigen, die Solidarität mit anderen aufkündigen durch Nationalismus, Rassismus oder Antisemitismus, üblicherweise auch alle Schutzmaßnahmen ablehnen. So gesehen ist das Corona-Virus eine Mahnung zur Humanität, die niemanden ausschließt und fordert auf zu einer Umkehr von der Ich-Zentriertheit unserer modernen Gesellschaft zu Solidarität und Mitmenschlichkeit.
Die Amtsträger auf allen Ebenen unseres Gemeinwesens stehen vor der großen Herausforderung zu entscheiden, durch welche Maßnahmen und in welchem Umfang sie durch Kontaktbeschränkungen die Ausbreitung des Virus zu verhindern versuchen. Die Entscheidungen, welche Kontaktmöglichkeiten wie lange durch staatliche Verordnungen verboten werden, sind selbstverständlich politische Entscheidungen. Ich sehe die Last der Verantwortung derer, die diese Entscheidungen treffen müssen und sage ihnen meine Solidarität und Unterstützung im Gebet zu. Zurecht sind die Menschen erschrocken, als sie im März erleben mussten, wie radikal der Staat in ihr Leben eingreifen kann. Ich danke allen, die erkannt haben, dass es in einer freiheitlichen Gesellschaft gerade bei solch gravierenden Maßnahmen auch der Meinungsbildung durch die gewählten Vertreter des Volkes in den Parlamenten bedarf. Das Corona-Virus mahnt dazu, den mitunter mühsamen, aber für den Zusammenhalt der Gesellschaft erforderlichen Weg der parlamentarischen Demokratie zu gehen. Das fordert von den Abgeordneten die Abkehr von persönlichen Diffamierungen, kleinlichen parteipolitischen Strategien sowie populistischen Vereinfachungen und die Umkehr zu Verhandlungen und Debatten, die sich auf die Sachfragen konzentrieren.
Für nicht wenige junge Menschen war es eine verstörende Erfahrung, wie radikal der Staat das Corona-Virus bekämpft, während sie diese Entschlossenheit in der Bekämpfung der Klimakrise vermissen. Schon im März war auf dem Fahrradweg, auf dem ich ins Büro fahre, farbig aufgespritzt: Corona-Krise bekämpfen! Klimakrise ignorieren? Der entschlossene Kampf gegen das Corona-Virus kann so eine Mahnung werden, genauso entschlossen gegen die verheerenden Folgen der Klimakrise vorzugehen. Es bedarf einer Umkehr aller, durch ihren persönlichen Lebensstil und kritischen Konsum die Lebensgrundlagen der künftigen Generationen zu sichern.
Die Corona-Krise mahnt in einer differenzierten Weise auch zu einem guten Umgang mit Fakten. Sie ist nämlich eine Krise, in der es offensichtlich nur sehr wenige Fakten gibt. Fakt ist: 1) Es gibt das Virus. 2) Das Virus breitet sich durch die Atemluft aus. 3) Seine Folgen sind: nichts, krank, sehr krank oder auch tot. 4) Das Virus kann zur Überlastung der medizinischen Versorgung führen. Alles, was darüber hinaus in der Öffentlichkeit verbreitet wird, sind offensichtlich Theorien oder Ergebnisse aus begrenzten Einzelstudien, die auch Wissenschaftler nicht als Fakten verkaufen sollten. Gerade in einer hochdifferenzierten freiheitlichen Gesellschaft braucht es eine hohe Transparenz darüber, was gesicherte Erkenntnis und was mehr oder weniger gut begründete Vermutung ist. Dies ist nicht nur eine Mahnung für Ärzte und Virologen, sondern auch für die Vertreterinnen und Vertreter der Medien. Das Virus mahnt natürlich auch dazu, entschlossen gegen bewusste Falschmeldungen oder unbegründete Theorien in den sogenannten sozialen Medien vorzugehen. Immerhin werden sogar auf Tweets des amerikanischen Präsidenten falsche Nachrichten als solche markiert. Es bedarf einer Umkehr zur Wahrhaftigkeit.
Die Infektionsschutzmaßnahmen legen offen, wie wichtig manche Bereiche der Gesellschaft sind, die bisher als selbstverständlich gesehen wurden. Es geht ihnen wie der Freiheit oder der Gesundheit, deren Bedeutung wir Menschen auch erst dann merken, wenn wir sie nicht mehr haben. Ich denke an die Bedeutung von Kindergärten, Schulen und Universitäten als Stätten der Erziehung und der Bildung. Im ersten Teil-Lockdown dauerte es bis nach den Osterferien – geschlagene sechs Wochen – bis die Bildungspolitiker und die Bildungsjournalisten endlich gehört wurden mit ihrem Ruf: Kindergärten und Schulen sind nicht nur Orte der Betreuung, sondern vor allem Orte der Bildung und der Erziehung, auf die die Kinder ein Recht haben. Ich bin sehr froh, dass jetzt Kindergärten und Schulen geöffnet bleiben und hoffe sehr, dass es so bleiben kann. Das Virus mahnt zur Umkehr, Bildungsstätten als Orte zu sehen, wo junge Menschen ihre Persönlichkeit entfalten und ihre Urteilsfähigkeit ausbilden können. Sie sind nicht bloße Ausbildungsstätten für die Bedarfe der Wirtschaft.
Die Vielfalt kultureller Angebote vom Jahrmarkt bis zur akademischen Bildungsveranstaltung haben viele auch erst vermisst, als es sie nicht mehr gab. Wir sehen jetzt, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft mit großem Engagement und hohem persönlichen Risiko das kulturelle Leben unserer Gesellschaft mittragen. Sie sind genauso wichtig, wie die Betriebe und Konzerne, die zum wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes beitragen. Hoffentlich behalten wir diesen Blick bei. Dann kann die Corona-Krise bewirken, dass die kulturellen Veranstaltungen, die es in großer Vielfalt in unserem Land hoffentlich bald wieder gibt, sich vieler Besucher erfreuen können.
Zum Schluss möchte ich auch dafür danken, dass vor allem in Thüringen sehr früh gesehen wurde, dass Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit hohe Verfassungsgüter sind, die nicht einfach beschnitten werden dürfen. Wir sind uns bei unseren gottesdienstlichen Versammlungen bewusst, dass sie in besonderer Weise vom Grundgesetz geschützt sind. Wir gehen deshalb auch sehr sorgfältig mit den Hygieneregeln um und haben angesichts der steigenden Infektionszahlen verfügt, dass alle während des gesamten Gottesdienstes einen Mund-Nasen-Schutz tragen und natürlich den Sicherheitsabstand wahren. Vor allem aber bedeutet die Achtung der Religionsfreiheit durch die Verfassung, dass wir in unseren Gottesdiensten für alle Menschen beten, die in besonderer Weise vom Virus und von den Schutzmaßnahmen betroffen sind. Wir beten für die Kranken und Verstorbenen und ihrer Angehörigen. Wir beten für alle, deren Beruf Kontaktbeschränkungen nicht zulassen, vor allem in den Kindergärten und Schulen, in den Alten- und Pflegeheimen, in Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen, in den Geschäften und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr und anderswo. Wir beten für alle, die nach einem Impfstoff und Heilmitteln forschen. Und wir beten für die Frauen und Männer, die in öffentlichen Ämtern schwierige Entscheidungen treffen müssen. Möge Gott uns alle segnen und beschützen.
Bischof Ulrich Neymeyr